Der Goldfisch und der Delphin

Was für ein Morgen! Die Sonne schien golden und klar, das Wasser war rein, wie lange nicht mehr und das kleine Fischbäuchlein knurrte in Vorfreude. Gleich gibt es was zu fressen, gleich, gleich, gleich!! Er konnte es kaum erwarten. Wie jeden Morgen, nachdem das Wasserglas gereinigt worden war, die Vorhänge aufgezogen, um die Sonne hereinzulassen und aus dem Radio fröhliche Musik in sein kleines, rundes Fischgläschen drang. Was für ein Leben, behütet und sicher! Nichts konnte dieses Glas durchdringen, nichts konnte ihm gefährlich werden. Keine Delphine, keine Muränen, keine räuberischen Muscheln. Nur klares Wasser und er, das schillernd orangene Goldfischlein.

Auch für den Delphin begann der Morgen fantastisch. Das türkisgrüne Meer umhüllte ihn mit warmem, belebenden Wasser, die Sonne malte Kunstwerke in den weißen Meeresgrund und eine Muräne hatte ihm gerade ausgiebig von ihren wilden Träumen erzählt. Auch waren ein paar stattliche Muscheln vorbeigekommen und kleine Oktopuskinder, die wollten, dass die Muräne die alten Geschichten von damals erzählt, als die Ihrigen noch mehrere Meter groß waren und sich bis an die Küste wagten. Und die Muräne erzählte geduldig, immer und immer wieder die gleichen Geschichten. Die kleinen Kraken lauschten gespannt und der Delphin tanzte, berauscht vom Leben, um alle herum.

Da kam eine Schnecke hinzu und sagte, dass sie eine noch unglaublichere Geschichte kenne, eine die sie bestimmt noch nie gehört hätten und die sie sogar selbst erlebt habe! Die Muräne, froh, sich mal ausruhen zu dürfen, zog sich in ihre Höhle zurück, nur noch das Köpfchen interessiert herausstreckend, denn natürlich war auch sie gespannt, was die Schnecke zu erzählen hatte. Dann begann die Schnecke mit ihrer Geschichte.

Es sei gar nicht lange her, da lebte sie nicht weit von hier an Land. Sie hatte eigentlich ein schönes Zuhause, unten an der Flussmündung, aber eines Tages kam ein Mensch, nahm sie mit und setzte sie zu einem Goldfisch in einem Wasserglas. Sie war tot unglücklich darüber, ganz allein mit diesem immer im Kreis schwimmenden Fisch und zu fressen gab es auch nichts, sodass sie die Futterreste vom Inneren des Glases saugen musste. Sie fragte den Goldfisch, warum er im Wasserglas lebe und nicht wie seine Brüder und Schwestern im Meer, oder im Fluss und der Goldfisch hatte mit fester Überzeugung geantwortet, weil es im Glas sicher sei. Da draußen, hatte er sie gewarnt, gäbe es wilde Tiere! Muränen, Delphine, Riesenmuscheln, Kraken und noch vieles mehr, die uns fressen wollen, aber hier in seinem Glas, da seien sie sicher und behütet!

Sie hatte ihm geantwortet, dass Muränen keine Goldfische mögen und auch Muscheln würden sie verschmähen. Und von Delphinen wüsste sie genau, dass sie Goldfische sogar bewundern würden, wegen ihrer Schönheit! Wenn Delphine Hunger hätten, erklärte sie ihm, würden sie ins offene Meer hinausschwimmen und sich ein paar Sardinen holen, oder Kalmare, aber Goldfische stünden nicht auf der Speisekarte von Delphinen. Da ist der Goldfisch wütend geworden.

Was für eine Lüge! Muränenleugner!! Delphinsympathisant!!

Er wüsste genau, was da draußen los sei, er höre es jeden Tag und würde es daher besser wissen!

Aber in Freiheit ist es wunderschön, hätte sie ihm geantwortet, es sei alles voller wunderbarer Brüder und Schwestern, in allen Farben und Größen und sie hätten alle großen Respekt vor Goldfischen!

Muränenleugner, Delphinsympathisant!!

Sie versuchte es jeden Tag aufs Neue, aber es half nichts. Irgendwann zog sie sich in ihr Häuschen zurück und verfiel in eine schwere Depression, fraß nichts mehr und wollte auch nicht mehr leben. Ein Leben in einem kleinen Wasserglas, mit einem neurotischen Goldfisch, das war für sie keine lebenswerte Zukunft.

Eines Abends kam der Mensch wieder. Und als er sah, dass sie völlig regungslos am Boden des Wasserglases lag, nahm er sie und warf sie zurück ins Meer.

Die anderen schauten die Schnecke ungläubig an. Ein Goldfisch in einem Wasserglas? Die kleinen Oktopusse gruselte die Vorstellung so sehr, dass sie anfingen, Tinte zu versprühen und die Muräne riss entsetzt die Augen auf.

„Was für eine grausame Geschichte, ein Fisch im Wasserglas!“

Der Delphin jedoch blieb ruhig und sagte, dass er auch davon gehört habe. Es gäbe Fische, nicht nur Goldfische, die würden das Wasserglas dem Leben in Freiheit vorziehen. Man habe ihnen von klein auf an erzählt, dass nur das Leben im Wasserglas sicher sei, während es in Freiheit grausam und brutal zuginge und man an keinem Tag wüsste, wie lange man noch zu leben habe.

„Dann müssen wir sie vom Gegenteil überzeugen“, rief eine der Muscheln!

„Vergiss es“, antwortete die Schnecke. Die Wasserglasfische und wir, stammen aus unterschiedlichen Welten, da sei nichts zu machen, das habe sie lange genug versucht.

„Vielleicht doch“, sagte der Delphin. „Wir Delphine haben ein besonderes Verhältnis zu Menschen und kennen ihr Verhalten sehr gut. Vielleicht gelingt es mir, den Menschen dazu zu bringen, den Goldfisch raus in die Freiheit zu entlassen?“

„Wie willst du das anstellen“, antwortete die Muräne ungläubig, „du sprichst ja nicht mal ihre Sprache?“

„Ich werde mir was einfallen lassen“, sagte der Delphin, mit einem wissenden Blick und schwamm davon.

Wenig später kam er zurück, mit einer Pflanze im Maul, die kleine, violette Blüten trug.

„Eine Wasserpflanze?“, fragte die Muräne verwirrt.

Die Schnecke lachte, „willst du dem Menschen ein Geschenk machen?“

„So in der Art,“ antwortete der Delphin, schwamm ans Ufer und schleuderte das farnartige Grünzeug auf den alten Holzsteg.

Am nächsten Morgen kam der Mensch zum Meer. Gerade wollte er vom Steg ins Wasser springen, da sah er die Pflanze auf den Brettern liegen. Ihre Blüten waren leicht eingefallen, aber immer noch kräftig violett. Eilig nahm er die Pflanze, brachte sie ins Haus und setzte sie zu dem Fisch ins Glas.

„Oh, wie schön“, freute sich der Goldfisch, „jetzt bin ich nicht mehr so allein!“

Der Goldfisch und die Wasserpflanze wurden dicke Freunde und als eines Tages kleine Kügelchen an den Wurzeln der Pflanze wuchsen, sagte sie zu ihm, dass er die gerne essen könne, die seien sehr schmackhaft! Erst zögerte der Goldfisch, denn nie hatte er etwas Anderes gegessen, als das Futter, dass ihm der Mensch ins Wasser gestreut hatte, aber dann wagte er doch eines der Kügelchen.

Der Geschmack war unglaublich, welch ein Genuss, so frisch und so belebend! Sofort pflückte er sich noch ein Kügelchen und noch eines und noch eines, bis er satt und rund war. Die Wasserpflanze freute sich, ihrem Freund Gutes getan zu haben und ließ neue Kügelchen wachsen.

Der Goldfisch wurde regelrecht süchtig nach den Früchten der Pflanze, bis er eines Tages so groß war, dass er sich in dem Glas kaum noch bewegen konnte. Auch die Wasserpflanze war um mehr als das Doppelte gewachsen, denn sie ernährte sich von den Hinterlassenschaften ihres Freundes. Ihre Blüten reichten mittlerweile weit über den Rand des Glases hinaus.

Es waren viele Tage vergangen, seit der Delphin das Grün von der Flussmündung zum Steg gebracht hatte und die Meeresbewohner wurden ungeduldig. Was denn nun sei und überhaupt, könnten sie keinen Sinn in dem Tun des Delphins entdecken. Gerade wollte sich die Muräne frustriert in ihre Höhle zurückziehen, da hörten sie ein nasses Klatschen.

„Was war das?“ fragte die Schnecke.

„Hörte sich an, als sei etwas ins Wasser gefallen“, antwortete eine der Muscheln.

„Ich schaue nach“, sagte die Muräne und schwamm zum Steg.

Sie traute ihren Augen nicht. Zusammengekauert am Fuße eines der Holzpfähle saß ein stattlicher, orangener Goldfisch, neben ihm eine violett blühende Wasserpflanze. Auch der Delphin kam zum Steg und schließlich noch die Muscheln, die Schnecke und die Krakenkinder.

Als der Goldfisch sie sah, bekam er Panik. „Hilfe, Hilfe, so hilf mir doch einer!!“

„Wir tun dir nichts“, versuchte der Delphin zu beschwichtigen und auch die anderen taten ihr Bestes, um den neuen Mitbewohner zu beruhigen.

„Schau, wir sind alles deine Brüder und Schwestern und keiner will dir etwas Böses.“

„Muränenleugner, Delphinsympathisanten!!“ rief der Goldfisch erregt und bekam vor Angst sein Maul kaum wieder zu.

Als sie das hörte, konnte die Muräne nicht mehr an sich halten und begann laut zu lachen. Auch der Delphin verlor die Beherrschung und die Muscheln klapperten fröhlich einstimmend mit ihren Schalen.

„Schau, lieber Freund“, sagte der Delphin, mit bemüht ernster Stimme. „Das ist hier zwar die unbezwungene Wildnis, aber niemand will dir etwas tun, im Gegenteil. Alle hier bewundern deine Schönheit. Und außerdem schmecken Goldfische nicht.“

„Ihr wollt mich fressen, ihr wollt mich fressen, ich weiß es genau, ich habe es immer wieder gehört, es ist die Wahrheit!!“ Der Goldfisch war sehr aufgeregt und ließ sich nicht umstimmen.

„Also, ich für meinen Teil“, sagte der Delphin mit einem lustvollen Unterton, „bevorzuge Sardinen und Kalmare“.

Dann folgte eine lange Weile Schweigens. Alle schienen irgendwie ratlos.

„Ok, es stimmt“, unterbrach die Muräne die Stille, wir fressen Fische.“

„Seht ihr, ich wusste es, ihr fresst Fische!!“

„Aber nur alte und schwache, die sowieso bald sterben würden, aber keine jungen Hüpfer, wie dich. Schon gar nicht, wenn sie voller Angst sind, denn dann bekommt man Bauchschmerzen von ihnen.“

Gerade hatten alle ihr Möglichstes gegeben, um den immer noch vor Angst zitternden Goldfisch zu beruhigen, da machte der Delphin einen großen Satz nach vorn, riss sein Maul auf und ließ den Goldfisch darin verschwinden. Dann sauste er wie ein Pfeil mit seiner Beute davon.

Die anderen waren erstarrt. Was für ein Verrat, was für eine grausame Hinterlist und auch die sonst so besonnene Muräne war außer sich. Wenige Minuten später kam der Delphin zurück.

„Goldfischmörder!“ fuhr ihn eine der Muscheln den Tränen nahe an.

„Wie gemein von dir, von wegen Sardinen!“, rief die Schnecke ausser sich.

„Musste das sein, Bruder? Ein Goldfisch?!!“, fragte die Muräne mit ernstem Blick.

„Ich verabscheue Goldfische“, antwortete der Delphin, „sie schmecken widerlich!“

„Warum hast du ihn dann gefressen?“, fragte die Muräne.

„Ich hab ihn nicht gefressen. Ich hab ihn zum Fluss gebracht. Goldfische sind Süßwasserfische.“

Der kleinen Gemeinschaft fiel ein Stein vom Herzen. Sie entschuldigten sich beim Delphin wegen ihrer Vorverurteilung und gingen in bester Laune ihrer Wege.

Der Goldfisch hatte sich erstaunlich schnell von dem Schrecken erholt und genoss sein neues Leben in Freiheit. Ab und zu schwamm er zum alten Holzsteg, um seine Freundin, die Wasserpflanze, zu besuchen. Die war mittlerweile so groß, dass ihre Blüten fast aus dem Wasser ragten.

Der Mensch hatte inzwischen einen neuen Goldfisch für sein Wasserglas. „Hier bist du sicher!“, sagte er ihm jeden Morgen. Dann streute er etwas Futter ins Wasser.